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Was kann alles weg?

Eine überbordende Verwaltung ist vielen ein Dorn im Auge. Die »Arena Analyse« 2025 fragt nach, wie eine Bürokratie regulieren kann, ohne alle zu nerven


von Walter Osztovics

erschienen in DIE ZEIT, 8. Januar 2025​

Screenshot eines Ausschritts des Artikels in der Zeit

Falls bei Ihnen zum Jahreswechsel Gäste aus dem Ausland zu Besuch waren, haben Sie ihnen sicherlich die Schönheiten Ihrer Stadt gezeigt. Das war allerdings unvorsichtig, denn eigentlich braucht man dafür eine amtliche Berechtigung. Nur wer eine Prüfung gemäß § 108 der Gewerbeordnung ablegt (was man dafür können muss, steht in der Norm CEN 13809), darf „die historischen Reichtümer und das künstlerische und kulturelle Erbe Österreichs“ herzeigen und dabei „die gesellschaftliche, soziale und politische Situation“ erklären.
Falls Sie aber ohnehin nur wandern waren, macht das die Sache nicht besser, denn auch für das „Führen von Gruppen im alpinen Gelände“ gibt es zahlreiche Bestimmungen, und zwar recht unterschiedliche für jedes Bundesland. 


Österreich, das Land der ungezügelten Reglementierungslust.
Zugegeben, die genannten Vorschriften gelten nur, wenn jemand das Herumführen von Touristen oder Bergsteigern gegen Geld betreibt, aber sobald es sich um etwas größerer Gruppen handelt, setzen sich auch Privatpersonen schnell dem Generalverdacht aus, denn selbstverständlich werden diese Gesetze durch ein Heer von Inspektoren überwacht. Gefühlt war das einfach schon immer so, das Klagen über die Bürokratie ist eine Grundkonstante der öffentlichen Diskussion. Weshalb noch jede Regierung der letzten Jahrzehnte das Versprechen des Bürokratieabbaus in ihr Koalitionsprogramm aufgenommen hat.


Doch zum Jahresbeginn 2025 scheint das Thema zu eskalieren. Das haben jedenfalls die Expertinnen und Experten der „Arena Analyse 2025 – Bürokratie, aber besser“ beobachtet. Der Umgang mit Regulierung wird eine der großen politischen Herausforderungen der nächsten Jahre. Der Druck wächst, vor allem bei den Vertretern der Wirtschaft hat der Ruf nach Entlastung von immer neuen Auflagen bereits drohende Töne angenommen. „Kann sich unser Standort das noch leisten?“, fragte die Wirtschaftskammer anlässlich eines Symposiums im Dezember. Die Industriellenvereinigung (IV) rechnet vor, dass nicht weniger als 3,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Erfüllung von bürokratischen Berichtspflichten verplempert werden. Wenn das so weitergeht, so die Warnung von IV-Präsident Georg Knill, droht eine fortschreitende De-Industrialisierung, weil Unternehmen nicht mehr bereit sind, in Österreich zu investieren. Knill erhält Schützenhilfe von Monika Köppl-Turyna, der Direktorin des Think Tanks EcoAustria: „Jeder Euro, der für Bürokratie draufgeht, ist ein Euro, der nicht in Innovationen oder nachhaltige Transformation fließen kann.“


In die gleiche Kerbe schlägt auch der Draghi-Report, für den ein Team um den ehemaligen Präsidenten der Europäischen Zentralbank Mario Draghi Vorschläge zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der gesamten europäischen Wirtschaft vorgelegt hat. Einer der Kernsätze: Bürokratische Auflagen sollen um ein Viertel verringert werden, für KMU sogar um 50 Prozent.


Es sind nämlich nicht zuletzt Rechtsakte der EU, die das Fass zum Überlaufen gebracht haben: Dank der CSRD-Richtlinie müssen Unternehmen genau Buch führen über die ökologischen, sozialen und sonstigen Auswirkungen ihrer Geschäftstätigkeit. Dazu kommen die Lieferkettenrichtlinie (Überprüfen der Standards von Zulieferbetrieben und deren Zulieferern auf der ganzen Welt), die Entwaldungsverordnung (kein Holz aus geschützten Wäldern) und die Taxonomieverordnung (eine aufwändige Dokumentation für Anleger, welche Aktien oder Fonds als nachhaltig gelten dürfen). Die Bauwirtschaft muss sich mit Regeln über das Recycling von Baumaterial herumschlagen und überdies noch mit der Gebäuderichtlinie (Häuser sollen klimaneutral werden…). Überall sind Nachweise, Aufzeichnungen, Berichtslegungen fällig.


Kein Wunder, dass sich Unternehmen ratlos fragen, wie sie das alles stemmen sollen, noch dazu im globalen Wettbewerb mit Volkswirtschaften, die sich anscheinend nichts dergleichen antun, allen voran China und die USA. Doch gleichzeitig kommt beim näheren Blick auf diese Liste der antibürokratische Unmut ins Stocken. Waren das nicht alles Forderungen der Zivilgesellschaft als Reaktion auf langjährige Missstände? Mit diesen EU-Gesetzen soll doch die Abholzung der Tropenwälder zur Herstellung europäischer Billigmöbel ebenso gestoppt werden wie die Vergiftung von Flüssen in Bangladesch durch die Produktion von Wegwerf-Textilien oder die Kinderarbeit im Kongo beim Schürfen der Mineralien für unsere Handys. Nehmen wir das jetzt wieder alles wieder achselzuckend in Kauf, weil sich Europa den Kampf dagegen „nicht mehr leisten“ kann?  
Hier liegt eine der Ursachen, warum der Abbau von Regularien in der Praxis so schwer fällt: Sie sind fast immer aus gutem Grund entstanden. Selbst bei Vorschriften, die als unsinnig erlebt werden, steht sehr oft das ursprüngliche Ziel außer Streit. Denn bezeichnenderweise gibt es parallel zum Stöhnen über zu viele Vorschriften auch einen Bereich, wo fast einhellig mehr Regulierung gefordert wird, nämlich die Online-Parallelwelt. Das Internet braucht strengere Regeln gegen Fake News und Manipulation durch Trolle, die Künstliche Intelligenz (KI) muss ebenso gezähmt werden wie ganz allgemein die Macht der Quasi-Monopole von Google bis Facebook.


Im traditionellen Bereich allerdings steigt der Druck, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil Europas Industrie sich auf Handelskriege an mehreren Fronten einstellen muss. In den USA will Präsidentenberater Elon Musk so ungefähr 40 Prozent aller Regeln abbauen. Selbst wenn das nur zum Teil gelingt, würden Europas Mitbewerber unter deutlich geringeren Auflagen produzieren. Lässt sich unter solchen Vorzeichen das Kunststück wiederholen, das mit der Datenschutz-Verordnung und dem Digital Markets Act gelungen ist, dass nämlich die großen Staaten weltweit – von den USA bis Indien – EU-Regeln übernommen haben, weil sie sonst den europäischen Markt verloren hätten? 


Die Pläne von Elon Musk stehen übrigens in auffälligem Widerspruch zu einem Mythos, der sich in Europa hartnäckig hält – dass nämlich die USA ein dereguliertes Land ohne mühsame Vorschriften wären. Anscheinend gibt es ja doch genug Bürokratie, um mit dem Versprechen des Abbaus Stimmen gewinnen zu können. (Paradoxerweise würden die Strafzölle, die Donald Trump immer wieder ankündigt, einiges an neuer Bürokratie erzeugen, die auch für die amerikanischen Handelspartner Europas belastet.) Ernsthafte Vergleiche, wie sie etwa das deutsche IFO-Institut oder die Stiftung Familienunternehmen in München angestellt haben, kommen zum Schluss, dass auf beiden Seiten des Atlantiks ein annähernd vergleichbarer Level an Regulierung herrscht und lediglich die Schwerpunkte anders gesetzt werden. In den USA wird zudem das Haftungsrecht schärfer gehandhabt. Während europäischen Unternehmen unter hohen Kosten für die Einhaltung von Vorschriften stöhnen, geben ihre amerikanischen Mitbewerber das gleiche Geld für Rechtsanwälte aus, um sich gegen Klagen von Konsumenten zu wappnen. 


Der Wunsch, Risiken oder mögliche Konflikte vorab zu vermeiden, stellt eine der unermüdlich sprudelnden Quellen neuer bürokratischer Vorschriften dar. Die andere liegt ausgerechnet bei jenem Wettbewerb, der sich durch die Bürokratie so sehr behindert sieht. Denn ohne strenge Regeln würde die von Adam Smith beschworene unsichtbare Hand des Marktes eine Abwärtsspirale in Gang setzen, wo jener siegreich bleibt, der sich am rücksichtslosesten über die Interessen von Umwelt, Arbeitnehmern, Lieferanten und Anrainern hinwegsetzt. EU-Gesetze zielen fast immer auf das Funktionieren des Binnenmarktes, das wird oft übersehen. Genaugenommen handelt es sich nicht um mehr Bürokratie, wenn eine neue Regelung 27 alte Vorschriften ersetzt. Für die betroffenen Unternehmen entsteht trotzdem zunächst höherer Aufwand, weil sie ja ihre gewohnten Prozesse umstellen müssen.


Mehr noch: Oft geht der gut gemeinte Schuss nach hinten los. Die EU-Richtlinie gegen Greenwashing soll verhindern, dass Produkte als „nachhaltig“ oder „klimafreundlich“ angepriesen werden, ohne es tatsächlich zu sein. Um Trittbrettfahrer abzuhalten, wurden aber die Auflagen für Zertifizierungen so hoch angesetzt, dass sich kleinere Unternehmen die Gütesiegel nicht leisten können, obwohl sie die Voraussetzungen erbringen würden. Die Bürokratie steht ihren eigenen Zielen im Weg, wie schon der Soziologe, Publizist und zeitweilige EU-Kommissar Ralf Dahrendorf resignierend festhielt: „Wir brauchen Bürokratie, um unsere Probleme zu lösen. Aber wenn wir sie erst haben, hindert sie uns, das zu tun, wofür wir sie brauchen.“


Das liegt unter anderem daran, dass neue Bestimmungen ja stets von Vertretern der Administration erdacht werden und nur selten von den Betroffenen. Die damit verbundenen Mühen werden folglich der Wirtschaft oder den Bürgern aufgehalst und kaum je den Behörden selbst. Das Lieferkettengesetz (dessen Einführung auf 2026 verschoben wurde) würde zum Beispiel dazu führen, dass Dutzende europäische Unternehmen immer wieder dieselben paar Textilfabriken in Bangladesch überprüfen müssen. Wenn das stattdessen eine EU-Behörde pauschal für alle tut, wird dasselbe Ziel ohne Belastung für die Wirtschaft erreicht.


Manche Berichtspflichten wären völlig entbehrlich, wenn sich die Behörden die Mühe machen würden, ohnehin vorhandene Daten zu nutzen, statt einfach den Unternehmen immer wieder abzuverlangen. So müssen für das Firmenbuch und für die Gewerbebehörde annähernd dieselben Daten zweimal hinterlegt werden, Auskünfte über Arbeitnehmer werden fast inhaltsgleich einmal für die Finanz, einmal für die Sozialversicherung erstellt. Bei Bauvorhaben wollen Vertreter der Gemeinde, des Bundeslands, der Umweltbehörde, der diversen Förderstellen immer wieder dieselben Pläne neu vorgelegt erhalten. 


Dass manche Vorschriften vor allem einmal den Behörden nützen, zeigt sich besonders deutlich beim österreichischen Gewerberecht. Wer Kleinunternehmer fragt, stößt sofort auf einen reichen Schatz an Beispielen, wo Geschäftsinhaber gleich am ersten Tag der Eröffnung saftige Strafen kassierten, weil irgendwelche obskuren Schilder noch nicht montiert waren, weil vorgeschriebene Beschriftungen um einen Millimeter zu klein waren oder weil der Kontrollor fand, dass die Beleuchtung auf dem Weg zur Toilette nicht hell genug wäre. Droht bei derart kleinlichen Verstößen wirklich Gefahr für die Konsumenten? Sollte man nicht einmal überprüfen, ob alle diese Vorschriften wirklich noch nötig sind? Der Realitäts-Check wird viel zu selten angestellt, beklagt Martin Fuchs, der als CEO der PremiQaMed Gruppe im Bereich der Gesundheitsdienstleistungen tätig ist, also einer besonders intensiv regulierten Sparte, wo aber zugleich die Anforderungen an Qualität und Sicherheit besonders hoch sind. „Bürokratische Vorschriften sollten sich immer wieder die Sinnfrage gefallen lassen“, fordert Fuchs, „was wäre schlechter, wenn wir diese Regel gar nicht hätten?“


Vorschriften sollten ein Ablaufdatum haben, meinen auch die Expertinnen und Experten der Arena Analyse. Wenig Erfolg versprechen dabei aber pauschal-undifferenzierte Ansätze. Weder die „Demontage mit der Kettensäge“ (© Argentiniens Staatspräsident Javier Milei) noch rein quantitative One-in-one-out-Regeln können sicherstellen, dass die richtigen, also die ineffizienten oder wirkungslosen, Vorschläge gekappt werden. Stattdessen sollten Kriterien für die Sinnhaftigkeit definiert und überprüft werden, fordert der Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts (WIFO), Gabriel Felbermayr: „Bei jeder neuen Regulierung sollte man sich schon vorher überlegen: Wie kommen wir zu den Daten, mit denen wir in fünf Jahren evaluieren, ob die Vorschrift gewirkt hat?“ Nur wenn die Prüfung positiv ausfällt, darf die Regelung verlängert werden, sonst läuft sie aus.


Das genannte Beispiel mit dem Gewerberecht wirft noch eine andere Frage auf: Warum machen sich die Behördenvertreter mit der Lupe auf die Suche nach Tatbeständen, die sie beanstanden können? Wäre es nicht sinnvoller, die Ladenbetreiber aufzuklären oder sie allenfalls zu rügen, welche Mängeln sie noch beheben müssen? Sollten die Ämter nicht lieber als Servicestellen fungieren statt als strafende Sherriffs? Das ist die Idee hinter dem Konzept der kooperativen Regulierung: Die Regeln zum Schutz von Wettbewerb, Umwelt, Mitarbeitern und Konsumenten sollen von den Betroffenen selbst erstellt werden, in Zusammenarbeit mit den Behörden, und nicht wie derzeit unter Misstrauensvorschuss von Beamten, die das Feld, das sie regulieren sollen, gar nicht kennen.


Hier scheint der Grund zu liegen, warum die Bürokratie in skandinavischen Ländern trotz vergleichbar hoher Regulierungsdichte weniger Unmut erregt als etwa in Österreich oder in Deutschland. Für die baltischen Staaten gilt Ähnliches. Die Anzahl der Vorschriften ist demnach gar nicht so entscheidend, solange die Einhaltung mit geringem Aufwand an Zeit und Kosten möglich ist. Auch im Norden Europas sind etwa für Bauprojekte oder Unternehmensgründungen zahlreiche Genehmigungsverfahren nötig, doch sie dauern ungleich kürzer. Die Beamten sehen zudem das Auftreiben der nötigen Daten als Holschuld, dank Digitalisierung müssen etablierte Prozesse nicht ständig neu erfunden werden.


Wenn also in Österreich und in den EU-Institutionen wieder einmal Bürokratie-Abbau versprochen wird, dann sollte das Ziel „bessere Bürokratie“ und nicht unbedingt „weniger Bürokratie“ lauten – so der Rat des 54-köpfigen Arena-Analyse-Panels. Kosten-Nutzen-Analysen von Vorschriften sowie Investitionen in eine serviceorientierte Verwaltung bringen mit Sicherheit mehr als ein spektakulärer Kahlschlag.


Eine kleine Nachricht zum Jahresbeginn sollte zudem selbst die grimmigsten Kritiker der EU-Bürokratie überzeugen, dass neue Vorschriften auch ihr Gutes haben können: Dank der Verordnung 2022/2380 gibt es für Elektrogeräte endlich einheitliche Ladekabel.

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Der Autor ist Managing Partner bei Kovar & 
Partners und Co-Autor der »Arena Analyse 2025«

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Die Expertinnen und Experten der Arena Analyse 2025:

Ulrich Brand, Fritz Breuss, Barbara Coudenhove-Kalergi, Thorsten Eder, Michael Eipeldauer, Gerhard Eisl, Claus Faber, Franz Fischler, Martin Fuchs, Michael Gerbavsits, Martin Gerzabek, Thomas Goiser, Wolfgang Gratz, Markus Gratzer, Kurt Guwak, Julian Hadschieff, Herwig Hösele, Sabine Jungwirth, Ferdinand Kaineder, Helmut Karas, Matthias Karmasin, Klaus Kastenhofer, Silvia Kaupa-Götzl, Monika Köppl-Turyna, Thomas Kratky, Franz Kühmayer, Alois Leidwein, Christoph Leitl, Elisabeth Mayerhofer, Christoph Neumayer, Willi Nowak, Verena Nowotny, Georg Oberhaidinger, Gebhard Ottacher, Martina Pecher, Georg Reischauer, Sieglinde Rosenberger, Walter Säckl, Günther Schefbeck, Michael Schiebel, Gabriele Schmid, René Schmidpeter, Florian Schnurer Georg Schöppl, Margit Schratzenstaller-Altzinger, Alois Schrems, Ursula Seethaler, Robert Seyfriedsberger, Stefan Sindelar, Elisabeth Stampfl-Blaha, Martin Stanits, Michael Staudinger, Jürgen Turek, Gabriela Untergrabner, Maximilian Urban, Marina Wittner

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Die »Arena Analyse« wird seit 2006 von Kovar & Partners in Zusammenarbeit mit der ZEIT und der Tageszeitung »Der Standard« durchgeführt. 
Ziel der Studie ist es, anhand von Expertenbefragungen kommende Trends aufzuspüren und ihre Hintergründe auszuleuchten. 

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