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  • Walter Osztovics

Die neue Marktwirtschaft nimmt Formen an

Aktualisiert: 5. Juni 2021

Wir stehen mitten in einem (wirtschafts-)politischen Paradigmenwechsel – so lautete die zentrale These der Arena Analyse 2021. Damit das nicht so trocken pseudowissenschaftlich klingt, wählten wir eine pointierte Formulierung, ein Zitat eines Panel-Teilnehmers: „Der Neoliberalismus ist tot“.


Wir hielten das im Jänner für witzig, wenn auch für leicht übertrieben. Tatsächlich hätte man das ruhig noch schärfer ausdrücken können, denn inzwischen brechen die Veränderungen in einem Tempo und einer Radikalität über uns herein, die wohl auch die Panel-Teilnehmer*innen der Arena Analyse überraschen dürfte.

Zwei Veränderungen lassen sich fast durchgehend beobachten: Erstens gehört das Ideal vom sparsamen Staat der Vergangenheit an. Die Idee, dass man vor allem die Steuern niedrig halten muss, damit die privaten Investitionen sprudeln, ist Schnee von gestern. Stattdessen erwartet man von der öffentlichen Hand, dass sie ordentlich investiert und sich das Geld dort holt, wo sie es findet.

Zweitens wird gerade die Idee der Deregulierung entzaubert. Lange Zeit schien es eine triviale, selbstevidente Wahrheit zu sein, dass die Wirtschaft umso schneller wächst, je weniger Vorschriften die Unternehmen einhalten müssen. Heute sehen wir: Es liegt am Mangel an Regulierung, dass die Digitalwirtschaft zwar Umsätze, aber keine Wertschöpfung generiert und dass grünes Wachstum nur schleppend in Gang kommt. Von den unproduktiven Nullsummenspielen der Finanzwelt ganz zu schweigen.


Das wirklich Spannende an diesem Paradigmenwechsel ist aber, dass er plötzlich politisch wirksam wird. Das neue wirtschaftliche Denken – für das wir erst noch einen Namen finden müssen – gewinnt Wahlen, stiftet Koalitionen quer über das alte Links-Rechts-Spektrum hinweg. Parteien höchst unterschiedlicher Richtung springen auf den emissionsfrei dahinsausenden Zug auf.


Nur so zum Beispiel:


Die Tories in Großbritannien verkörperten lange Zeit die reine Lehre der Staat-halte-dich-zurück-Austeritätspolitik. Margret Thatcher kann schlechthin als (Mit-)Erfinderin des Neoliberalismus gelten. Nach der Finanzkrise 2008/2009 hat kein anderes Land die Staatsausgaben so radikal zurückgefahren wie die David-Cameron-Regierung in den Jahren 2010-2015. Nun mutierten die Tories fast über Nacht zu einer Partei der öffentlichen Investitionen. Sie gewinnen Regionalwahlen (zuletzt in Hartlepool) mit dem Versprechen, ungeheure Summen in die strukturschwachen Städten im Nordwesten zu pumpen, sie sanieren den National Health Service (wofür sie vor allem ihre eigenen Reformen rückgängig machen müssen) und verstaatlichen sogar Bahnlinien.


In Deutschland führt eine Partei mit unverhohlen dirigistischen Ideen die Umfragen an. Im Wahlprogramm der Grünen wimmelt es von staatsfinanzierten und offensichtlich teuren Programmen: Höherer Mindestlohn, Hilfen für Berufs-Wiedereinsteiger, Bildung und Forschung sowieso, Förderung der Digitalisierung, Ausbau von Bahn- und Busnetzen, Solardächer auf jedem Haus. Das Wort „Steuersenkung“ wagt nicht einmal mehr Friedrich Merz in den Mund zu nehmen.


Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ging noch 2017 mit einem sogenannten wirtschaftsfreundlichen Programm in die Wahl. Damals bedeutete das Deregulierung und Steuersenkung, tatsächlich schaffte er zum Beispiel die Vermögenssteuern ab. Wirtschaftsfreundlich ist er immer noch, nur versteht er heute darunter, dass der Staat wieder mehr Steuern einhebt, dafür aber Unternehmensgründungen in Bereichen wie Gesundheit, Informatik und klimafreundlicher Logistik subventioniert. Frankreich hat dafür extra einen Staatsfond für Risikokapital eingerichtet. Zudem setzte sich Macron als einer der ersten europäischen Staatschefs für eine weltweite Mindestbesteuerung von Unternehmen ein. So eine Abgabe gilt als einfache und zugleich wirkungsvolle Maßnahme gegen Steueroasen.



Na und erst die USA! Erstaunlich genug, dass Joe Biden ein Klimaschutz-Programm durchzieht, bei dem selbst Bernie Sanders erst einmal tief durchatmet. Die neue Administration schlägt überdies sozialpolitische Pflöcke ein, die noch vor kurzem als „schleichender Kommunismus“ verdammt worden wären: Gesundheitsversorgung für alle (Finanzierung noch unklar…). Kostenlose Bildung für alle, konkret zwei Gratis-College-Jahre nach dem Ende der High School. Vor allem fließen auch hier staatliche Mittel in die Infrastruktur – und zwar mehr als 2 Trillionen. (Das ist auch dann noch sehr, sehr viel Geld, wenn man berücksichtigt, dass eine amerikanische „trillion“ nur tausend Milliarden ausmacht, nicht eine Million Milliarden, wie nach europäischem Sprachgebrauch.)

Das Geld dafür wird durch höhere Steuern aufgebracht, allen voran Reichensteuern und Schließung von Steuerschlupflöchern für Unternehmen.


In Österreich war selbst in Zeiten der Hochblüte des Neoliberalismus die obrigkeitliche Tradition stark genug, der wirtschaftlich aktive Staat kam nie aus der Mode. Zudem haben weder die Grünen noch die aktuelle türkise ÖVP ausgeprägte wirtschaftspolitische Visionen auf den Tisch gelegt, beide können sich also dem neuen Mainstream anschließen, ohne irgendwelche Ruder herumreißen zu müssen, wie in den oben genannten Ländern.

Praktisch bedeutet das, dass Wirtschaftspolitik derzeit durch Klimapolitik einerseits und Arbeitsmarktpolitik andererseits ersetzt wird. Dass sich Österreich in der EU dem Kampf gegen Steueroasen und für eine weltweite Mindestbesteuerung einsetzt, ist für Hochsteuerland ebenfalls logisch.


Die Arena Analyse wagte sich – als Resümee der Beobachtungen – zu einer Prognose vor: Das Wirtschaftssystem der Zukunft wird wieder eine Marktwirtschaft sein, aber eine mit Fairness-Zertifikats-Erfordernis.


Soll heißen: Am erfolgreichsten werden jene Länder oder Staatengruppen sein, wo Anreize und Regelungen dafür sorgen, dass der Markt gesellschaftlich und ökologisch verträgliche Formen des Wirtschaftens belohnt.

Klingt nach kitschigem Wunschtraum, wird aber gerade in großem Stil verwirklicht.


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