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So düster wird’s nicht

Die Zukunft sah schon mal besser aus. Doch die Krisen könnten neue Formen des Zusammenlebens und -arbeitens vorantreiben


von Walter Osztovics

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Auf den ersten Blick ist der Jaklhof in Kainbach bei Graz ein bäuerlicher Kleinbetrieb wie viele andere auch. Es werden Bio-Gemüse und Kräuter produziert, dazu Eier von glücklichen Hühnern, im Hofladen gibt es Milch und selbst gebackenes Brot von befreundeten Nachbarn. Ungewöhnlich ist allerdings das Geschäftsmodell, denn dieser Hof wird von den Bauersleuten und den Konsumenten gemeinsam betrieben. Die späteren Bezieher des Gemüses â€“ sie nennen sich Ernteteilerinnen â€“ finanzieren vorab die Produktion und garantieren die Abnahme der Ernte. Produzenten und Verbraucher tragen gemeinsam das Risiko, vor allem aber kommt dieses Konzept ohne jeden Zwischenhandel aus.

Solidarische Landwirtschaft oder Community Supported Agriculture (CSA) nennt sich diese Art des Wirtschaftens. Es handelt sich um ein noch junges Phänomen, das sich derzeit aber rasch verbreitet. In Österreich gibt es bereits mehr als 60 solcher Höfe und Gärtnereien. Für den Soziologen Klaus Schuch kommt das Interesse an kleinräumigen, selbstbestimmten Einrichtungen dieser Art nicht unerwartet. Es sei eine Folge der Krisen der letzten Jahre, von der Covid-Pandemie über die Klimakatastrophe bis hin zur aktuellen Teuerung. »Krisen führen oft dazu, dass neue gesellschaftliche Praktiken erprobt werden«, sagt Schuch. Seine Kollegin Anna Deutschmann ergänzt: »In Krisenzeiten sprießen neue Ideen, gleichzeitig wächst die Bereitschaft, sich auf Veränderungen einzulassen.« 

Die beiden Wissenschaftler forschen am Zentrum für Soziale Innovation in Wien. Soziale Innovationen, also neue Ideen für die Bewältigung von Alltagsproblemen, nehmen in Umbruchzeiten zu. Doch nicht jede neue Idee führt tatsächlich zu Transformationen. Vielmehr tun sich zunächst einmal Chancen auf, die genutzt werden müssen.

Dieser Befund lässt sich als Motto über 2023 und die kommenden Jahre schreiben, er stellt auch die Schlussfolgerung der Arena Analyse 2023 dar, die den Titel Chancen in Sichtträgt. Durch das Bewusstsein, mit permanent krisenhaften Umständen konfrontiert zu sein, sind Entwicklungen in Bewegung gekommen, die Veränderungen zum Besseren bewirken können – davor aber eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Risiken und Chancen erfordern. Vor allem die jüngere Generation vermisst eine solche Auseinandersetzung, kritisiert die Autorin Elodie Arpa. »Für viele junge Menschen gibt es, seitdem sie sich für Politik zu interessieren begonnen haben, nichts anderes als Krisen«, sagt die 23-jährige Aktivistin für Jugendpartizipation und ein handlungsfähiges Europa. »Die Diskrepanz zwischen dem, was getan werden sollte, und dem, was getan wird, ist enorm groß.«

Soziale Innovationen sind stets eine Antwort auf die Ãœberforderung der Politik und der großen Institutionen. Sie werden von der Basis getragen, oft aber von großen Organisationen oder Kommunen gefördert, wie etwa die Agentur Social City in Wien. Deren Aufgabe ist es, Initiativen zu bündeln, Freiwillige zu unterstützen und neuen Projekten Starthilfe zu geben. So entstand etwa die Initiative »Stadtwald«, wo Menschen eines Bezirks regelmäßig zusammenkommen, um Ideen zum Klimaschutz gemeinsam umzusetzen. »Stadtmenschen« heißt ein anderes Wiener Netzwerk zur Hilfe bei einfachen Alltagsproblemen. Wer dort mitmacht, kann ältere Menschen bei Arztterminen begleiten, Hilfsbedürftige beim Ausfüllen komplizierter Formulare unterstützen â€“ oder einfach nur Leute zum Plaudern abholen. Letzteres bieten auch die in ganz Österreich tätige »Plattform gegen Einsamkeit« an sowie das »Plaudernetz« der Caritas oder das von der evangelischen Diakonie geförderte »Plaudertischerl«. »Solche Initiativen verändern die Gesellschaft«, sagt Social-City-Projektleiter Johannes Gorbach. »Es entstehen neue Strukturen, um zu helfen, wo es nötig ist.« 

Hilfe war im Jahr 2022 auch eines der wichtigsten Themen der Politik. Zahlungen in Milliardenhöhe wurden gegen die Teuerung oder den Energiepreisschock ausgeschüttet, die neben der sozial stabilisierenden Wirkung auch einen unbeabsichtigten Nebeneffekt hatten: eine stärkere Umverteilung. Weil sozial Schwächere bei den Einmalzahlungen stärker gefördert werden, wie die Leiterin des Wirtschaftsforschungsinstituts EcoAustria, Monika Köppl-Turyna, vorrechnet: »Dazu kommt, dass auch bei den aktuellen Lohnabschlüssen die niedrigen Einkommen durchweg deutlich über der Inflationsrate angehoben wurden.« Selbst das Klischeebild, dass Reiche in der Krise noch reicher werden, stimme diesmal nicht. »Die Vermögensverteilung wurde flacher, das zeigen auch die Daten der Nationalbank«, sagt Köppl-Turyna. Denn die sprunghaft gestiegenen Energiepreise haben vor allem Firmen- und Finanzvermögen getroffen. 

Eine stärker ausgewogene Verteilung von Einkommen und Vermögen bringt Vorteile für die gesamte Volkswirtschaft, sie belebt nämlich die Konjunktur. Bezieher niedrigerer Einkommen geben ihr Geld schneller wieder aus als Topverdiener, weil sie ein höheres Maß an unbefriedigten Konsumbedürfnissen haben. Zahlreiche Studien, unter anderem von OECD und Weltbank, haben gezeigt: Mehr Umverteilung bedeutet mehr Wirtschaftswachstum. Zwar schwanken die Prognosen für 2023 derzeit noch zwischen Stagnation und Rezession, doch es spricht einiges dafür, dass die Gehälter, vor allem die niedrigen, auch in den nächsten Jahren stärker steigen könnten als in der Vergangenheit. Denn der derzeitige Arbeitskräftemangel führt zu einer größeren Konkurrenz zwischen den Unternehmen. Wer seine offenen Stellen besetzen will, darf bei den Löhnen künftig nicht knauserig sein.

Noch vor Kurzem schien die Arbeitslosigkeit das größte Problem der Sozialpolitik zu sein – in den Programmen der Parteien finden sich immer noch zahlreiche Ideen für Beschäftigungsinitiativen und Arbeitszeit-Verkürzungen. Tatsächlich aber wird der Normalzustand der nächsten Jahre anders aussehen: Es wird mehr Jobs als Bewerber geben, nicht nur in den Unternehmen, sondern auch im öffentlichen Dienst – und ganz besonders im Gesundheitssystem. Der Engpass sollte eigentlich nicht überraschen: Jedes Jahr erreichen wesentlich mehr Menschen das Pensionsalter, als Junge ins Berufsleben treten. Politisches Handeln ist jedoch nicht zu erwarten, wären doch ausgesprochen unpopuläre Maßnahmen nötig, um diesem Trend entgegenzusteuern: ein höheres Pensionsantrittsalter etwa oder mehr Zuwanderung.

Dabei bietet gerade diese scheinbar ausweglose Arbeitsmarktkrise gleich mehrere Chancen, eingefahrene Verhältnisse zum Besseren zu verändern. Zum einen könnte die bereits mehr als 30-jährige Ära, in der die Gewinne stets schneller wuchsen als die Gehälter, zu Ende gehen. Zum anderen entstehen neue Beschäftigungsmodelle: Schon jetzt nehmen Anstellungen mit Viertagewoche (nicht mit kürzeren Arbeitszeiten, sondern anders verteilt) stark zu, Betriebe treffen flexible, auf individuelle Bedürfnisse zugeschnittene Vereinbarungen mit ihren Dienstnehmern. Und immer mehr Unternehmen verstehen, dass sie Jobs mit sinnstiftenden, ethisch korrekten Tätigkeiten anbieten müssen, um als Arbeitgeber begehrt zu sein. Geld ist nicht mehr das einzige Kriterium, das einen Arbeitsplatz attraktiv macht. Im Wettbewerb um die besten Köpfe der Zukunft wird das Versprechen einer ausgewogenen Work-Life-Balance ebenso wichtig sein wie die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.

Noch radikaler könnten die Auswirkungen auf den Umgang mit Migration sein, ein Thema, bei dem die öffentliche Wahrnehmung und die Realität besonders weit auseinanderklaffen. Während Rechtspopulisten und Krawallzeitungen beharrlich das Bild einer permanenten Bedrohung zeichnen, als könnten Österreich und Europa niemals den Andrang an Migranten und Geflüchteten bewältigen, reicht die Zahl der Zuwanderer tatsächlich kaum aus, um das Schrumpfen der Bevölkerung auszugleichen. Das gilt sogar für das Jahr 2022, wo in Österreich mehr als 60.000 Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen wurden, bei denen noch unklar ist, wie viele dauerhaft bleiben werden.

Im Jahr 2021 betrug die Nettozuwanderung 52.000 Personen, dazu kamen rund 12.000 gewährte Asylanträge. Damit wurde die Grenze von rund 60.000 knapp überboten, die nötig ist, um die Finanzierung der Pensionsversicherung langfristig stabil zu halten. Der Nachfragedruck auf dem Arbeitsmarkt wird dadurch nur geringfügig beeinflusst. Da die europäischen Nachbarländer unter ähnlichen demografischen Problemen leiden wie Österreich, wird schon bald ein Wettlauf um jene Migrantinnen und Migranten entstehen, die derzeit noch mit hohem Aufwand von den Grenzen Europas ferngehalten werden.

Nach Ansicht der Panel-Teilnehmer der Arena Analyse 2023 braucht Österreich eine grundlegend andere Zuwanderungspolitik. Hürden und Qualitätskriterien für Einwanderer sind zwar ebenso nötig wie die Begrenzung der jährlichen Gesamtzahl. Danach aber müssten den Menschen verlässliche Perspektiven und aktive Hilfe bei der Integration angeboten werden: Österreich muss als Einwanderungsland attraktiv werden, wenn es nicht wirtschaftlich zurückfallen will.

Ein derartiger Paradigmenwechsel würde zwar den rationalen Interessen des Landes entsprechen, kollidiert aber mit der emotionalen Befindlichkeit der Bevölkerung. Die nächsten Jahre werden daher weiterhin von einer bizarren Parallelität unvereinbarer Gegensätze gekennzeichnet sein: Während die Politik unter dem vermeintlichen Druck der Wähler und Wählerinnen immer neue Ideen zur Abschreckung von Migrantinnen und Migranten ersinnt, hat die Wirtschaft längst begonnen, neue Einwanderer gezielt anzuwerben und die restriktive Gesetzgebung durch Ausnahmeregelungen zu umgehen.

Der Facharbeitermangel ist derzeit besonders im Bereich der Green Jobs spürbar. Allein für die Montage von Fotovoltaik-Modulen werden bis 2030 zusätzlich 30.000 Fachkräfte benötigt, prognostiziert der Photovoltaik-Branchenverband. Es fehlt aber auch an Installateuren für Wärmepumpen und klimafreundliche Heizsysteme, an Energieplanerinnen und Umwelttechnikern, ganz zu schweigen von IT-Expertinnen für die Algorithmen, die im Hintergrund die neuen smarten Klimatechnologien steuern.

Die Öko-Branche sucht deshalb so dringend nach Personal, weil der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine in Österreich – so wie in ganz Europa – die Energiewende massiv beschleunigt hat. Es ist ein Beispiel dafür, wie aus einer furchtbaren Krise Chancen entstehen können: Die sprunghaft gestiegenen Preise für Erdgas und Strom lösten einen Boom bei Sonnen- und Windenergie aus. Die offiziellen Ziele zur Dekarbonisierung der Energieversorgung, die noch vor einem Jahr utopisch anmuteten, sind plötzlich realistisch.

Die anhaltend starke Nachfrage nach neuen Energieformen wird auch einen Technologieschub zur Folge haben, ist die frühere Siemens-Vorständin Brigitte Ederer überzeugt, die sich als Sprecherin des Forums Versorgungssicherheit und als Aufsichtsrätin der ÖBB weiterhin mit Energiefragen befasst. »Sonnen- und Windenergie brauchen Zwischenspeicher, weil sie mit großen Schwankungen produzieren«, sagt Eder. »In diesem Bereich wird derzeit intensiv geforscht, weil der Bedarf hier hoch ist und sich Investitionen daher lohnen werden.« Ein weiterer Nebeneffekt: Geforscht wird überwiegend im besonders klimabewussten Europa, die neuen Technologien könnten daher auch die Abhängigkeit von Lieferländern verringern. »Eines haben wir in den letzten fünf Jahren gelernt«, sagt Ederer: »Nur wenn Europa eng zusammenarbeitet, können die aktuellen Probleme gelöst werden.«

Fortschritte beim Klimaschutz, weniger Ungleichheit, neue Formen der gesellschaftlichen Zusammenarbeit, eine bessere Arbeitswelt – werden das die Schlagworte sein, unter denen das Jahr 2023 zusammenfasst wird? Für Innovationen wie auch für zufällige Chancen gilt: Es hängt davon ab, was man draus macht. »Jede Gesellschaft braucht eine gemeinsame Utopie, eine Vorstellung, wohin sie sich entwickeln will«, sagt die Soziologin Anna Deutschmann. Positive Veränderungen sind also nur möglich, wenn man sie auch will.

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Der Autor ist Managing Partner bei Kovar & 
Partners und Co-Autor der »Arena Analyse 2023«

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